Vom Sinn des Irgend.

Flüchtige Bemerkungen zwischendurch.

Sandra Man

Unter dem Titel »Sensationen im Alleingang« wird vom Wiener Künstler Moritz Majce am 28. Oktober 2005 für einen Abend ins »Cabaret Renz« gebeten. Die Einladung verspricht neben Essen und Trin­ken einen »Abend voller Überraschungen, gestaltet von den Künstlern selbst«, weiters »ein Erlebnis« und eine Ausstellung und all das bei freiem Eintritt.

Das »Cabaret Renz« verfügt als ehemaliges Bordell im oberen Stockwerk über mehrere Separées, die von jeweils einem der insgesamt sechs teilnehmenden Künstler bespielt werden. Am Stiegenauf­gang sorgt ein Türsteher dafür, dass immer nur ein einziger Besucher eintritt; durch die Wahl eines von mehreren zur Auswahl stehenden Symbolen entscheidet er sich für den Besuch eines Raums. Die anderen wird er nie sehen, ein nochmaliges Eintreten ist ausgeschlossen und der Überblick über das Ganze der Veranstaltung somit unwiderruflich verwehrt. Die im Eingangsbereich des »Cabaret Renz« affichierten Regeln des Abends lauten entsprechend: »1. Nur einer geht rein. 2. Auf sich allein gestellt muss jeder sich entscheiden. 3. Die Entscheidung ist unwiderruflich und einmalig.«

Das Geschehen in den einzelnen Räumen wird nicht dokumentiert, um den erwünschten Ereignis­charakter und die Einmaligkeit der Aktionen konsequenterweise auch im Nachhinein nicht zu tor­pedieren. Eine Beschreibung der Vorgänge an diesem Abend im Oktober 2005 wird daher auch im folgenden nicht geleistet. Eher geht es darum zu zeigen, dass seinesgleichen geschieht, als was geschieht.

Aktionsradius I : Cabaret Renz

Der erste Gedanke beim Wort »Sensation« mag dem gelten, was Aufsehen erregt; dem Spektakel, das die Menge anzieht, schockartig unterhält, Spannung und Prickeln verursacht. Etwas weiter entfernt schon ist die ältere, allgemeine und neutrale Bedeutung von »Sensation« als »Sinnes­eindruck«, den der Betrachter empfängt. Im Zusammenhang mit Kunst macht die Sensation die ihr innewohnende Ambiguität deutlich: Im ersten, aktuellsten Sinn, also als Spektakel, ist sie zumindest im Rahmen von Avantgarde-Vorstellungen der Feind alles Künstlerischen, haftet ihr doch der Ver­dacht des Massenkompatiblen, des Verdummenden, kurz und in Adornoscher Diktion: des Kultur­industriellen an. Sensationen können am laufenden Band produziert werden, sie sind immer neu, immer aufregend und somit Erfolgsgarantien.

Als »Sinneseindruck« ist sie jedoch Kerngebiet aller Kunst, die sich dem Betrachter einprägen, seine Wahrnehmung ansprechen oder gar verändern will. Über die Sinne tritt sie ein, zeigt ihm Schönes, Erhabenes, Hässliches; die Welt, wie sie ist, sein könnte oder sein soll. Zuweilen greift sie hierbei zu drastischen Mitteln. Zwischen der Sensation als Spektakel und der Sensation als künstlerischem Instrument verläuft ein schmaler Grat, um den zu wissen zeitgenössische Kunst nicht nur nicht umhinkann, sondern auf den hinzuweisen vielleicht zu ihrer herausragenden Geste spätestens seit der Erkenntnis, dass es Massenmedien gibt, gehört. Die Sensation als Spektakel wie die Sensation als Mittel der Kunst verlangt Aufmerksamkeit; beide etablieren dafür Regeln. Wesentlich ist der Unterschied im Umgang mit diesen Regeln: Einmal geht es um größtmöglichen Regelkonformismus zur Gewährleistung des Erfolgsrezepts, ein andermal um das permanente Vermeiden automatisierter und damit geradezu beruhigender Wiedererkennbarkeit des immer Selben. Die Herausforderung ist es, der zunehmenden Gefahr der Verwechslung zu begegnen.

Sensationen im Alleingang ist der Titel der skizzierten Gratwanderung. Der Besucher wird vereinzelt und so zu einer Form der Aufmerksamkeit gezwungen, die statt durch Überfülle von Mitteln und Menschen durch radikale Verknappung erzeugt wird. Dient das Spektakel gemeiner Weise der Gemeinschaftsstiftung, singularisiert Sensationen im Alleingang die Besucher. Der Alleingang, den jeder Besucher antritt, ist nicht seine Individualisierung, sondern ein Oszillieren zwischen ihm als Einzelnem und ihm als Wesen der Gattung »Besucher«. Seine Zugehörigkeit ist nicht entscheidbar, der Alleingang ist nicht die Verabsolutierung des »Persönlichen« gegenüber der »Masse«, sondern der Prozess eines Allein-werdens im Augenblick der Entscheidung, einen der Räume zu betreten. Ein Ver-alleinen im verbalen Sinn, nicht ein allein-sein als Status. Die gewohnt-gewöhnliche Sicherheit, die den Kunstgenuss zumeist als kollektiven (Theater, Kino, Museum) veranschlägt, wird zurück gelassen. Das Transitorische, der Übergang, die Passage vom Einer-unter-Vielen zum Einer-allein ist der künst­lich und dh hier: künstlerisch eingesetzte Hebel, die Aufmerksamkeit darauf zu richten, was gemeiner Weise unbeachtet bliebe: das Werden als zwischen-zwei-Zuständen-sein; nicht mehr das sein, noch nicht jenes sein – irgendwo dazwischen. Der Eintritt des Einzelnen in eine ihm unbekannte Situation macht deutlich, was sonst automatisiert abläuft und daher unsichtbar ist: das Betreten eines Mu­seums, einer Galerie, eines Theaters, eines Kinos. Überall wird eine Schwelle übertreten, findet eine Transformation statt, selten aber richtet sich die künstlerische Aufmerksamkeit darauf. Die Ver­einze­lung, die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten, das Verhindern des Überblicks über das Ganze legt der Automatisierung Hindernisse in den Weg, ist ein Akt (freundlicher) Sabotage.

Komplementär zum Besucher-werden ist das Künstler-werden: Erst wenn der Besucher eintritt, gibt es auch einen Künstler; ohne dieses Aufeinandertreffen findet Kunst hier nicht statt, gibt es keine »Produktion« und keinen »Produzenten« das »Kunstwerk« ist das Zusammenspiel zweier Vorgänge und widersteht der im Kunstkontext immer noch weitgehend üblichen Objekt-Betrachter-Situation. Im Fall der Sensationen im Alleingang gibt es nichts, das die Raumzeit des Aufeinandertreffens über­dauern würde, kein Bild, das ungeachtet des Betrachters an der Wand hinge, keinen Film, der auch ohne Publikum gezeigt, kein Stück, das auch vor leerem Haus aufgeführt werden könnte.

Dabei geht es wohl gemerkt nicht um das Verwischen der Grenzen im Sinne eines »jeder ist Künst­ler«, nicht um einen Tausch der Positionen, sondern um das Aufzeigen des Moments, in dem und für den diese Positionen sich überhaupt konstituieren: Wie werde ich zu einem Besucher, wie werde ich zu einem Künstler? Was geschieht, und nicht: wer ist wer, ein für alle mal. Die fixen Einheiten dessen, was Kunst ist – nennen wir sie grob verkürzend: Bild, Betrachter, Produzent – zurück zu lassen ist eine Sensation für sich. Eine, die anklingen lässt, dass die Figur, die hier im Rhythmus der Sensa­ti­onen entstehen kann, einem anderen Takt folgt als dem gemütlichen Surren des Kunstbetriebs.

Sensationen im Alleingang ist eine Serie von Einmaligkeiten. Kunst als Ausgesetzt-werden in eine Situ­ation der Unberechenbarkeit, plötzliches Sehen im Unvorhersehbaren. Was geschieht, wenn Künstler und Besucher einander begegnen, ist nicht reproduzierbar, spielt sich nur zwischen ihnen in der Einmaligkeit ihres Aufeinandertreffens ab. Dass es geschieht ist die Serie, die an diesem Abend am 28. Oktober 2005 im »Cabaret Renz« für über 200 Besucher und sechs Künstler Form annimmt. Die Einmaligkeit der Konfrontation und ihre Wiederholung verschieben den Blick vom Was auf das pure Dass. Dass es geschieht, und zwar mehrmals ist die Sensation. Das Was, der »Inhalt« der in den Räumen »gezeigten« Aktionen wird zum Träger für das Geschehen selbst. Irgendwo zwischen der Einmaligkeit und der Wiederholung, zwischen dem Augenblick und der Serie, zwischen dem, was vergeht und was bleibt, dem Einzelnen und dem Allgemeinen spielt sich das ab, worum es geht. Gäbe es nur eines der beiden, schlüge man sich auf die Seite des Bestimmten, Konkreten, Einzig­artigen oder auf die des Allgemeinen, Unspezifischen, Abstrakten entginge einem das Vibrieren, das die Dinge unsicher und ihr Da-sein zu Sensationen macht. Zu Sensationen zwischen dem neutralen, beliebigen Sinneseindruck und Sensationen als Aufregungen: Dass es geschieht und nicht vielmehr nicht, erregt unsere Aufmerksamkeit, macht uns staunen. Die Sensation als Sensation.

Hier ist der Grund, warum entgegen jeder Ökonomie der Raison und unter Wahrung der Integrität die Künstler nicht dokumentieren, was geschieht. Die Ahnung von einem Geheimnis des Dass ist nicht Geheimniskrämerei, sondern die Bewahrung der Flüchtigkeit des Geschehens selbst. Unfassbar ist nicht nur der nicht fixierbare, vergängliche Akt, der hier das Kunstwerk ausmacht, sondern auch des­sen serielle Gestalt: Nie ist hier das Ganze zu haben, weder wissen die Künstler, was in den ande­ren Räumen gerade geschieht, noch weiß es der Besucher, der sich nur für einen entscheiden kann. Die Welt, die Sensationen im Alleingang zu sehen gibt, ist immer eine fragmentarische, augenblickliche und kein Bild einer ganzen, überschaubaren Ordnung.

Sensationen im Alleingang entzieht sich einer definitiven Genrezuordnung; Anspielungen auf Installa­tion, Performance, Happening und dergleichen lassen sich finden, was aber wenig Aufschluss gibt, denn was bleibt, ist gerade nur eine Spur von etwas, das sich selbst für einen bestimmten Zeitraum immer erst entwirft. Was an diesem Abend geschehen wird, ist nicht prognostizierbar, eher entspricht es der Zeitlichkeit der Vorzukunft: etwas wird gewesen sein, etwas wird geschehen sein. Die Vor­zu­kunft ist nichts, das sich je einholen ließe, sie ist irgendwann zwischen einem »zu früh« und einem »zu spät«: bevor man einen der Räume betritt, geschieht nichts und sobald man ihn verlässt, ist es bereits zu spät, das Ereignis noch einzuholen. Dass es geschehen sein wird, ist jener Moment in der Zeit, der nie »wirklich« ist, jener Zeitpunkt, an dem man sich nie postieren kann, um zur Analyse, Inter­pretation, Reflexion (dh zur Verteidigung) überzugehen, der »nur« einen Möglichkeitsraum eröff­net ohne je fassbar und begreifbar zu sein. Das irritiert.

Der Standpunkt, von dem aus man etwas betrachtet, der Fixpunkt, zumeist geteilt mit anderen, der die sichere Distanz gewährleistet und das Geschmacksurteil ermöglicht, stellt sich nie ein. Stets ist man im Zustand der Unsicherheit, des Strauchelns, Stolperns, Überrumpeltwerdens. Eine Vorberei­tung ist nicht möglich und eine Nachbereitung schon nicht mehr im Geschehen. Die eigene Meinung ist mit anderen nicht zu teilen, zumindest nicht so rasch und einfach wie im Mechanismus der indif­ferenten Kunstbetrachtung gemeinhin üblich. Es liegt in der Sache selbst, diese Automatismen bei­seite zu lassen, um ein Moment neben dem nur allzu gut funktionierenden Monument zu sein.

Eine Attacke auf den Kunstbetrieb, der ihm innewohnenden Geschwindigkeit ist Sensationen im Alleingang aber dennoch nicht. Das hieße nicht nur eine falsche Bedeutung zusprechen, sondern sogar zuviel der Bedeutung. Die Flüchtigkeit jenes Moments, da etwas geschieht, der Entzug des festen Bodens der fassbaren Gegen-wart eines Gegen-stands der Betrachtung lässt die Frage nach der Bedeutung nicht unbehelligt: Von wo aus soll denn hier noch beurteilt werden, was die Sensation bedeutet, was sie sagen will, worauf sie verweist, was sie darstellt oder abbildet? Von wo aus ins Visier nehmen?

Das Urteil setzt voraus, dass es ein Gegenüber gibt, das sich möglichst von allen Seiten begutachten lässt, dessen Kontext man idealerweise kennt, das sich vielleicht sogar erklärt und einem Hinweise, Indizien liefert auf der Suche nach seiner Bedeutung. Kunst entkommt dieser detektivischen Jagd nach dem Verständnis nicht, eher schon kommt ihr zumeist eine ausgewählte Position und Funktion im Willen zur Bedeutung zu. Sie soll (und will) Aufschluss geben über die Gesamtverfassung einer Zeit oder zumindest Gesellschaft, soll (und will) diese zeigen und befindet sich nach wie vor im Großen und Ganzen der Relevanz. Selbst als selbstgenügsame Kunst, heutzutage wohl eher als Design (das letzte Residuum des Schönen?) erkennbar, entzieht sie sich nicht, es sei denn, schiere Indifferenz schon als unterscheidendes Merkmal begreifen zu wollen. Gewöhnt an diese Umstände begibt sich der Kunstbetrachter zumeist gehorsam auf eine Art Bedeutungsjagd, sucht und sammelt eifrig kleine und große, subtile und plakative Hinweise, baut sie in sein mehr oder minder großes Vorverständnis ein und prozessiert sie zu einer Interpretation, der alsgleich das Geschmacksurteil folgt: relevant/nicht relevant. Wofür? Für ihn selbst (berührend/kalt lassend), die Zeit (aktuell/veraltet), die Gesellschaft (kritisch/affirmativ), die Welt (realistisch/unglaubwürdig), die Kunstgeschichte (neu­/schon gehabt) allemal.

Sensationen im Alleingang werfen die Frage auf, was geschieht, wenn der Referenzrahmen sich im und nur für dieses eine Geschehen erst konstituiert und auch gleich wieder verschwindet, wenn der »Standpunkt« ein Oszillieren ist und somit nicht feststeht. Wenn das Von-wo-aus und das Wohin un­sicher sind, anstatt die Richtung der Bedeutungsjagd vorzugeben, kurz: wenn Kunst nicht Detek­tiv­spiel ist, der Künstler nicht der Täter, der Betrachter nicht das Opfer und die Waffe nicht das Bild. Wenn dieses Grundmuster funktionierender Kunstbetrachtung und -produktion nicht angewandt werden kann, fragt sich: Was bleibt?

Aktionsradius II: Die Kunst

In einem »Die Kunst als Überrest« betitelten Vortrag stellt Jean-Luc Nancy die Frage »Was bleibt von der Kunst?« Die Frage mag befremden, boomt doch allerorts das Museum, erfreuen sich Biennalen und Kunstmessen anschwellender Besuchermassen und scheint sich evidenterweise ein Überflüssigwerden der Kunst nicht mehr abzuzeichnen. Nun überkommt einen zuweilen bei Gelegenheit eines Besuchs solcher Institutionen allerdings das Gefühl völliger Beliebigkeit, nicht nur der Werke und ihrer Ansammlung, sondern auch ihrer »Positionen«, die zu demonstrieren sie nicht müde werden, was mitunter müde macht. Nicht, weil es »nicht neu« ist, in der Kunst auf politische Missstände aufmerksam zu machen, nicht, weil es »nicht neu« ist, sich im Theoriemarkt zu bedienen und nicht, weil es »nicht neu« ist, sich zitierend auf die Vorgänger zu beziehen, wird man müde, hungrig und durstig, sondern weil das »Position-beziehen« als Verweisen-auf-etwas, das außerhalb des Kunstwerks sein soll, selbst die Aura der Ausrede verströmt und somit unstimmig wirkt. Ausrede dafür nämlich, dass zwar von der Kunst (selbst) immer noch zumeist verlangt und erwartet wird, sie solle repräsentieren, solle darstellen, was traditionellerweise nur sie darzustellen im Stande ist, was darzustellen ihr aber nicht mehr so recht gelingen will, weil Unsicherheit darüber herrscht, was es denn nun sei, was sie und nur sie überhaupt darstellen soll... Und wohl auch Unsicherheit darüber, ob sie denn nun überhaupt darstellen soll und wenn nicht, was dann? Was dann, wenn die über­ge­ordne­te Idee oder die Idee des Übergeordneten, Ganzen, der Referenzrahmen, den wir alle teilen würden oder auch nur könnten, nicht mehr zu finden ist? Und die aus dieser Idee abgeleitete Funktion der Kunst, als Teil dieses Ganzen metonymisch auf es zu verweisen, es darzustellen, ihre Glaub­würdig­keit verloren hat? Was, wenn die Aura der Ausrede: Position beziehen ohne noch Glaubwür­dig­keit beanspruchen zu können, einzig davon zeugte, dass es auf nichts mehr zu verweisen und nichts mehr darzustellen, nichts mehr zu repräsentieren und nichts mehr zu bedeuten gibt?

Sensationen im Alleingang stellen nichts dar, sie verweisen auf nichts, sie sind nicht festhaltbar, nicht festmachbar und bedeuten nichts. Wahrscheinlich sind sie nicht einmal relevant, wenn relevant sein heißt, ein übergeordnetes Kriterium erfüllen, einen Standpunkt einnehmen. Sie eröffnen den un­sicheren Raum des Irgendwo, das nichts von sich weiß, solange man nicht dort gewesen sein wird und das heißt vorzukünftig: immer schon und immer nur irgendwohin unterwegs sein. Sie schreiben sich ein in die aufgeworfene Frage »Was bleibt von der Kunst?«, die Nancy beantwortet mit: ein Überrest. Kein Rest, sondern ein Überrest. Wo ist der Unterschied? Kunst mit der Aura der Ausrede, die dem Verlust der Glaubwürdigkeit des Übergeordneten, Vereinenden, sei es Gott, die absolute Idee, der Staat, die Gesellschaft, die Werte, die Politik oder jede andere tradierte Einheit damit antwortet, immer noch für etwas stehen zu wollen und sei es auch für diesen Verlust, ist ein Rest. Ein Rest von etwas, das verloren zu haben uns zwar orientierungslos macht, aber das immerhin noch kollektiv: Wenn wir selbst zwar ständig und stets Standpunkte einnehmen, Meinungen vertreten, Gesetze befolgen, Werte einhalten und hochschätzen ohne noch so recht zu wissen, warum, also Resteverwerter längst vergangener Hochzeiten sind, dann ist es zumindest beruhigend und bestätigend, wenn es der Kunst nicht anders geht. Der Rest von etwas ist immer noch Zeichen für etwas anderes, für das er steht, er ist Mangel, Abwesenheit. Der Überrest dagegen ist fast schon ein Zuviel, etwas, das bleibt und nicht nur quantitativ mehr ist als nur der traurige Rückstand ver­gan­ge­ner Bewegungen, sondern etwas qualitativ anderes. So qualitativ anders wie Sensationen im Alleingang nicht nur keine summarische Einheit diverser Restformen wie Happenings, Performances oder Installationen sind, sondern etwas anderes, das statt den Verlust zu betrauern und so in ihm verhaftet zu bleiben unterwegs ist in ein unsicheres, flüchtiges, gewagtes Irgendwohin. Und zwar deshalb in ein Irgendwohin, weil man es auch tatsächlich nicht besser weiß; das Irgendwohin gerade nicht als Ausrede und Willkür, sondern als Infragestellen oder Ernst nehmen des längst in Frage gestellten Wohin als fixem Ziel, das vom nicht minder fixen Standpunkt aus zu erreichen wäre. Das Irgendwohin als undefinierter Überrest eines Wohin und damit ein Unterwegs-sein in ein Fremdes und Unbestimmtes, auf das das »irgend« hinweisen möchte, anstatt auf etwas Bestimmtes noch zu verweisen. Eine Spur hinterlassen, nichts als diese Spur sein, statt etwas abbilden oder darstellen ist das Charakteristikum einer Kunst des Irgend, von der Sensationen im Alleingang eine Ahnung geben.

In der Beantwortung seiner Frage »Was bleibt von der Kunst?« macht Nancy den Unterschied zwischen Spur als Überrest und dem abendländischen Bild als Abbild deutlich, indem er auf das lateinische vestigium als Gegenstück zur imago zurückgreift. Vestigium bedeutet wörtlich so viel wie »Schuhsohle« oder »Fußsohle«, »Spur« oder »Fußabdruck«. Ein Fußabdruck ist das, was bleibt von einem Schritt, man sieht darin noch dessen Spur, den Fuß selbst aber nicht. Es zeigt die Bewegung des Vorübergehenden an, wie dieser beschaffen ist aber nicht. Auch der Schritt, der gesetzt wurde, ist selbst flüchtig, kaum tritt er auf, schreitet er auch schon weiter. Theologisch ist das vestigium Dei im sinnlich Wahrnehmbaren, es ist die sinnliche Welt als die von Gott geschaffene Welt; der Mensch dagegen ist das Abbild Gottes, imago Dei, insofern er ein geistiges Wesen ist. Das vestigium ist sinnlich. In der imago ahmt Gott sich selbst nach, stellt sich selbst dar, das vestigium dagegen bleibt, wenn keine solche Selbstnachahmung stattfindet: die sinnliche Welt ist zwar von Gott geschaffen, sie bleibt von ihm wie von einem Vorübergehenden, als Abbild Gottes entsteht aber nur der Mensch.

Der vielleicht seltsam anmutende Rekurs auf verstaubte theologische Spitzfindigkeiten ist bei Nancy freilich nicht zufällig, lautet doch die Frage in der extended version: »Was bleibt von der Kunst nach dem Tod Gottes?« Die Abbildfunktion hat die Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil wir den des Glaubens Würdigen eingebüßt haben. Die Standpunkte und Positionen, die Repräsentationen und Darstel­lungen auch noch des Verlusts sind letztlich Glaubensfragen. Diese zur subjektiven Angelegenheit erklären und meinen, man könne als einzelner ja immer noch seinen Privatglauben pflegen, ist nichts anderes als Symptom des Mangels an Verbindlichkeiten und Glaubenssätzen und bleibt daher eben auch nur »subjektiv« gültig, was auch immer ein solcher Glaube sein soll. Eine communio, dh eine Kirche mit Sicherheit nicht. Wenn Gott tot ist, wie die wohl immer noch eben so unterschätzte wie eingängige Formel für den Kulminationspunkt der abendländischen Metaphysik – ihren Glauben an oberste Vorbilder wie Gott oder die absolute Idee und dessen Verlust – lautet, dann ist auch der Mensch kein Abbild, keine imago Dei mehr; eine Konsequenz, die die Angelegenheit brisant macht, weil es sich hier nicht um Atheismus oder sonst ein »theologisches« Problem handelt. Das Bild als Abbild hat in einem radikaleren Sinn seine Gültigkeit verloren als in einem »nur« ästhetischen oder »nur« theologischen. Man wäre geneigt zu sagen in einem ontologischen Sinn, würde sich nicht auch in jeder so genannten Lehre vom Sein noch die vom obersten Seienden, von Gott also, verstecken, was es notwendig macht, nicht nur eine andere Kunst, einen anderen Gott, sondern auch ein anderes Sein zu denken. Und einen anderen Menschen. Eine »Kunst«, einen »Gott«, ein »Sein« und einen »Menschen«, die das Fremde begrüßen, das unbestimmte Irgend, das als Überrest und Spur von etwas zeugt, das an ihm selbst aber nicht mehr ablesbar ist, das es selbst auch nicht ist.

Sensationen im Alleingang sind der Versuch und das Wagnis einer solchen Kunst als Überrest, weil sie irgendwo jenseits der Darstellung und des Abbilds ein Kunst-Werden im Augenblick und für den Augenblick sind, weil sie sich der Frage nach dem Was? ihrer Bedeutungstat nicht stellen, sondern diese Tat erst gar nicht begehen. Statt dessen das Dass der Sensation als sinnliches Da!sein... was? feiern? inszenieren? vielleicht: begrüßen?

In der Flüchtigkeit dieses Grußes wird irgendetwas gegenwärtig, das nicht Mangel, Trauer, Rest, Verlust, Orientierungslosigkeit abbildet und veranschaulicht und so auch tröstet, sondern ein Staunen, vielleicht ein Befremden darüber, dass es geschieht.

In diesem Augenblick des Grüßens steckt eine Ahnung davon, dass es irgendwohin geht, dass das Bild nicht das letzte Wort hat; im Irgendwo schaffen und so eine Welt eröffnen, gestalten, erahnen lassen, in dem Existenz nicht heißt Vorbildern zu folgen und Nachahmer zu finden, sondern den Einzelnen und den Moment als Fragment, als Spur, als Vorübergehenden, als Passanten, als eine Figur zu sehen.

All das mag nach wenig klingen – und nicht laut zu sein, darin liegt vielleicht seine Stärke. Im Allein­gang, auf sich als ein vermeintlich Weniges reduziert, ungeschützt und ausgesetzt erfährt der Be­sucher die Großzügigkeit eines solchen Augenblicks, das Geschenk des Geschehens. Es ist das, was bleibt.