Zu »Festung / Europa«

in: Kunstwerk als Handlung. Transformationen von Ausstellung und Teilnahme.

Marita Tatari

Ich möchte im Folgenden eine Arbeit besprechen, in der Teilnahme und politische/gesellschaftliche Relevanz auf eine Weise auftreten, die die Entwicklung des Kunstbegriffs nicht als Verlassen, sondern eben als eine Transformation der Autonomie der Kunst zu denken gibt. Moritz Majces und Sandra Mans Festung / Europa (Sophiensaele, Berlin 2015) präsentiert, bewegt sich zwischen bildender und darstellender Kunst. Auf subversive Weise spielt diese Arbeit mit den beiden Grund­tendenzen der Auflösung des Kunstwerks in der gegenwärtigen Kunstproduktion: Kunst als Parti­zi­pation und Kunst als politische Botschaft. In einer Zeit, in der das Thema »Europa als Festung« brisanter ist denn je, lässt ihr Titel politisches Engagement erwarten. Doch die künstlerische Arbeit enttäuscht diese Erwartung. Kein Bezug zu den aktuell stattfindenden Fluchtbewegungen nach Europa, kein Bezug zum Mittelmeer als einem Meer von Toten, keine politische Botschaft, nur ein paar Zeilen im Programmheft. Eine Reflexion über die Tatsache, dass die Ausschließung der anderen eine Einschließung von sich selbst, eine Festung ist; und die Erwähnung des Anfangsmythos Europas – Prinzessin Europa wird von Jupiter entführt und eingesperrt. Der gepanzerte Automat Talos dreht in göttlichem Auftrag seine Wachrunden um ihr Gefängnis. Zugleich wird in dem Programmheft ein Doppelgänger dieses Mythos zitiert, nämlich Galileis Entdeckung jener vier Monde, die um den Planeten Jupiter kreisen. Einer dieser Monde wird »Europa« genannt. Da diese Himmelskörper nicht um die Erde kreisen, bringt diese Entdeckung das geozentrische Weltbild zum Einsturz. Sie eröffnet die Perspektive eines unendlichen Universums.

Statt einer Stellungnahme zur aktuellen Politik in Europa, statt die Destruktivität und Auto­destruk­tivität des neoliberalen Europas anzuprangern, geht es in dieser Arbeit um ein In- Bewegung-bringen der Begrenzung, um ein ein- und entgrenzendes Spiel. In dieser Hinsicht ist der Titel also eher ein Statement, eine Setzung gegenüber der aktuellen Tendenz einer engagierten Kunst, die von Kura­to­rInnen, die das künstlerische Feld programmieren, als state of the art betrachtet und von den Kommissionen, die über die Förderung von Kunstprojekten entscheiden, zum Kriterium für ihre Evaluation nach gesellschaftlicher und politischer »Relevanz« bzw. für die Berechnung ihrer Bedeutung als Marktprodukt wird. So gesehen handelt es sich vielmehr um eine Verteidigung der Autonomie der Kunst gegenüber ihrer Reduktion auf eine Dienstleistung zu politischen oder gesellschaftlichen Zwecken. Es ist zugleich aber auch eine Dekonstruktion dieser Autonomie, die Resonanzen der Minimal Art enthält; eine Dekonstruktion des angeblich außerordentlichen Status eines Kunstwerks.

Ein banaler Gegenstand, ein überdimensionaler Würfel aus einfachen Brettern steht mitten im Saal. Um ihn befinden sich vier kleinere Würfel und an ihren Wänden Bilder, die Grundrisse historischer europäischer Festungsanlagen zeigen. Die BesucherInnen gehen einige Minuten durch dieses Ausstellungssetting; schließlich öffnen sich die Kuben, die über zwei Meter hohen Bretterwände, von jeweils einem Performer/einer Performerin (insgesamt sind es achtundzwanzig PerformerInnen) getragen, bewegen sich. Die PerformerInnen sind hier ein Chor, der nicht spricht, sondern den Raum verändert – ein Raum-Chor. Im Inneren des mittlerweile geöffneten großen mittleren Würfels befinden sich Sitzplätze für die ZuschauerInnen, die sich nach und nach dort hinsetzen. Die Stühle schauen in vier Richtungen, die ZuschauerInnen haben verschiedene Perspektiven des Raums und des Raum-Chors vor sich und blicken zugleich auch auf die anderen ZuschauerInnen; sie können also von ihrer konkreten Situation, mit anderen zusammen hier sitzend ZuschauerInnen zu sein, nicht absehen. Die Wände beginnen sich wieder zu bewegen, diesmal rund um das Publikum. Die ZuschauerInnen befinden sich in einer Festung, die sich langsam, aber unablässig wandelt: sie öffnet sich, schließt sich, bildet aus den Wandelementen diverse Konstellationen. Man wohnt einer stillen, meditativen Raumchoreographie bei. Die PerformerInnen sind dabei so auf die Wandelemente – das Halten, Bewegen, Hinstellen, Umstellen usw. – konzentriert, dass sie sich als Personen entziehen und fast Teil der Wände werden; so wirken sie auf eine Weise, die die Materialität, die Bewegung und die Stille der Wände, die Anwesenheit einer Ein- und Entgrenzung selbst aufscheinen lässt. Ein Sound, der auf Datenmaterial der NASA zum Jupitermond »Europa« basiert, begleitet die Bewegung. Verse, Fragmente eines Gedichts, Mikrographien dieser kosmischen Bewegung liegen auf den Sitzplätzen; sie werden von den ZuschauerInnen gelesen, während der Raum sich wandelt.

Ein Gegenstand, ein Würfel aus Holzbrettern – seine Masse, sein Gewicht – entfaltet sich als flüssige Relationalität, als Raum in Bewegung, und zwar ausgehend von den im Raum am Boden markierten (sowie im Video und auf den Bildern der Ausstellung sichtbaren) Grundlinien, die nun plastisch, lebendig werden. Die Dichte, mit der sich Bewegung, Stille, Sound – das Ganze der künstlerischen Arbeit – entfaltet, intensiviert die Weise, wie das Geschehen aufscheint und wie es also empfunden wird, so dass die Bewegung wie ein Überschuss über die diversen sich bildenden Konstellationen hinausragt; die Bewegung der Beziehungen zwischen Gegenständen, PerformerInnen, Zuschau­er­Innen, Sound und Projektionen (die an einer Stelle der Arbeit räumliche Umgestaltungen, wie man sie gerade erlebt, als Film aus der Vogelperspektive zeigen) stellt sich selbst aus. Sie stellt sich als über jede sich bildende Gestalt hinausgehende aus. Ein Außen öffnet sich in jeder Gestaltung und diese Öffnung ist wie eine Bühne, die die Entfaltung des Raums selbst aufscheinen lässt.

Die ZuschauerInnen befinden sich in dieser Bewegung wie vor einem Schauspiel mit Anfang, Mitte und Ende. Sie schauen aber nicht etwas zu, einem Objekt, das sich vor ihnen bewegt bzw. handelt, sondern es geht um sie selbst. Sie nehmen an dem Sich- entfaltenden teil, sind selbst Teil der sich wandelnden Räume. Ihr Platz, ihr eigener Raum wandelt sich mit den Umwandlungen des Raum-Chors. Sie sind auf eine nicht tatsächlich interaktive Weise selbst Teil dieses Chors, Teil des Akts der Entfaltung dieser Relationalität. Vor den ZuschauerInnen findet keine Handlung in einem für diesen Zweck vorgesehenen, vorausgesetzten, feststehenden Raum statt; die Handlung ist das Raumge­sche­hen selbst, an dem sie teilhaben.

Die flüssige Relationalität des Raum-Chors wird wie ein selbstständiges Ganzes aus Anfang, Mitte und Ende aufgeführt, als ob es ein Theater- oder ein Tanzstück wäre. Der Umstand, dass die Kon­vention einer klassischen Bühnenkonstellation – die Aufführung eines selbstständigen Schauspiels – mitten in der Kontingenz der konkreten ZuschauerInnen situiert wird, irritiert oder verfremdet die ZuschauerInnen. Inmitten dieser beweglichen Installation dürfen sie sich nicht interaktiv als Be­such­erInnen einer Installation, in die sie hinein- und hinausgehen, durch die sie durchgehen, verhalten, sondern sind eben als ZuschauerInnen verpflichtet, von Anfang bis Ende der Bewegung dazu­blei­ben; und das, obwohl die Bühne nicht vor ihnen liegt, sondern inmitten ihrer Kontingenz entsteht. Auf dieser Bühne stellt sich der Überschuss über sich selbst, der sie als Teil der sich wandelnden Räume sind, aus.

aus: Marita Tatari, Kunstwerk als Handlung. Transformationen von Ausstellung und Teilnahme, Fink : Paderborn 2017, S. 219ff